Szenen aus Goethes Faust

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Kein anderes Werk hat Robert Schumann so lange beschäftigt wie seine «Szenen aus Goethes Faust». Man darf damit zu Recht annehmen, dass die gross angelegte, rund zwei Stunden dauernde Komposition für nicht weniger als acht Vokalsolisten, drei Chöre und Orchester eine zentrale Rolle in seinem Schaffen gespielt hat. Deshalb ist es unverständlich, dass Schumanns geniale Komposition den Weg in den Konzertsaal noch immer nicht gefunden hat. Höchste Zeit also, dass Cantus Basel und Cantus Zürich - ein Jahr nach dem Goethe-Jubiläum - die sicher wichtigste Vertonung des Faust-Stoffes aufführen!

Während Jahrhunderten hat die Legende um «Faust» Dichter, Maler und Komponisten künstlerisch beflügelt. Auch Johann Wolfgang von Goethe, der sich rund sechzig Jahre lang mit der Geschichte des Magiers und Wahrsagers Georg Faust aus dem 16. Jahrhundert befasste. Seine Version des Stoffes - Faust I erschien 1808, Faust II 1832 - gehört zu den Meisterwerken der Weltliteratur.

Nur wenige Komponisten haben jedoch versucht, Goethes «Faust» musikalisch umzusetzen, ohne die Sprache des Meisters anzutasten. Im Deutschen Raum waren es wohl nur Robert Schumann und Gustav Mahler (dieser mit dem zweiten Teil seiner «Sinfonie der Tausend»), welche Teile dieses umfangreichen Werkes vertonten.

1844 fasste Robert Schumann erste Pläne zu einer Faust-Oper, entschloss sich aber später zu einer eher oratorischen Konzeption. Zu diesem Zeitpunkt komponierte er ausgerechnet zuerst die Schlussszene aus Faust II, an die sich bisher kein Komponist gewagt hatte. Erst 1849 fügten sich die Vertonungen von sechs weiteren Szenen an. Der grosse Erfolg der Uraufführung der bis anhin komponierten Teile bewog Schumann, zwei weitere Szenen zu schaffen; als letzter Teil entstand 1853 die Ouvertüre. Eine Aufführung seines ganzen Werkes hat Schumann leider nicht mehr erlebt.

 

Sommer 2000, Walter Riethmann

 

Der Inhalt


Die beiden ersten Abteilungen der Faust-Komposition zeigen menschliches Scheitern: Gretchens Niedergang wird von der heiteren Liebesszene über die Gewissensqual und Schutzsuche im Gebet bis hin zum verzweifelten Zusammenbruch in der Domszene nachgezeichnet. Faust wird daraufhin nach seiner unschuldigen Naturbetrachtung von der Sorge mit Blindheit geschlagen, und am Ende der sechsten Szene erringt Mephistopheles mit Fausts Tod schliesslich scheinbar den Sieg.
In der dritten Abteilung erfolgt die Erlösung: Der gescheiterte Mensch wird durch die göttliche Gnade gerettet. Tod und Teufel verlieren ihre Macht. Dieser Erlösungsgedanke entpuppt sich als der wahre Kern von Schumanns Musik.

 

Die Handlung


Nach der Ouvertüre in d-moll (der zentralen Tonart im ganzen Werk), einem verkürzten Sonatensatz mit langsamer Einleitung und abschliessender Coda in D-Dur folgt die innige, orchestral in lichten Farben gezeichnete Gartenszene mit Faust und Gretchen. An ihrem Höhepunkt, der Stemblumenepisode, erscheint Mephistopheles, um Gretchen zum Abschied zu ermahnen.
Ausweglosigkeit prägt die Szene «Gretchen vor dem Bild der Mater Dolorosa». Das gesprochene Gebet, während Gretchen frische Blumen in Vasen füllt, gipfelt, nach heftig gesteigerter Klage im Schrei: «Hilf! Rette mich von Schmach und Not!»
Es folgt die düstere Szene im Dom, in der Gretchen den bohrenden Anklagen des «Bösen Geistes» ausgesetzt ist. Das strenge chorische «Dies irae» steht im Kontrast zu Gretchens innerer Zerrissenheit, welche sich in einer freien Gesangsdeklamation ausdrückt - eine dramatische Bühnenwirkung, auf die Schumann, wie auch andere Komponisten, nicht verzichten wollte.

Die zweite Abteilung beginnt mit der ausgedehnten und vielfach gegliederten Szene «Ariel, Sonnenaufgang». Nach einem zauberhaften Orchestervorspiel schenken Ariel und der Chor der Elfen Faust den Schlaf des Vergessens. Faust tritt nun in ein neues Leben ein, den Sonnenaufgang in den Bergen bewundernd, besingt er Kraft und Schönheit der Natur.
In der nachfolgenden Szene «Mitternacht» fallen wie Schatten die vier grauen Weiber «Mangel», «Schuld», «Sorge» und «Not» in hastigem, geheimnisvollen Wechsel über die unheimliche Szene. Die Solostimmen heben sich gespenstisch von den Farben der Holzbläser und tiefen Streicher ab, an Mendelssohns Elfen- und Hexenmusik erinnernd. Nach seinem Arioso, in dem er sein bisheriges Leben reflektiert, weigert sich Faust, die Macht der Sorge über ihn zu akzeptieren und wird daraufhin von dieser mit Blindheit bestraft.
In «Fausts Tod» führt Mephistopheles anfänglich den Chor der Lemuren an; eine Marschmusik, die mit ihrer fahlen Melodik Gustav Mahler vorwegnimmt. Faust erscheint. Sein Wunsch an den Augenblick «Verweile doch, du bist zu schön», kann sich nicht erfüllen. Das zynische Nachwort von Mephistopheles, im Glauben, er hätte seine Wette gewonnen, «Es ist vollbracht!», hat seine Wirkung. Der Chor wiederholt «Es ist vollbracht»: Dies eine Änderung von Schumann, bei Goethe spricht der Chor «Es ist vorbei».

Die dritte Abteilung, «Fausts Verklärung» ist die durchgehende Vertonung von Goethes metaphysischer Schlussszene. Eine Dramatik fehlt, die Musik spricht im lyrischen Habitus einer ätherisch entrückten Landschaft, welche der Chor einleitend schildert. Dann treten die drei Patres Ecstaticus, Profundus und Seraphicus auf, Einsiedler, die in Kontemplation versunken ihrem Heil entgegenstreben und verschiedene Stufen der Erkenntnis erreicht haben. Ein ausgedehnter Chor der Engel und der seligen Knaben schliesst sich an. Daraufhin erscheint Doctor Marianus, der einzige dieser Anachoreten, der Einblick in die höchste Geisteswelt erlangt hat. Er steht für den geläuterten Faust. Nach dem Terzett der Büsserinnen und dem Chor der seligen Knaben findet das Werk seinen beeindruckenden Abschluss im Chorus mysticus, «Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis», welcher zuerst als ruhiger Doppelchor beginnt, dann in ein dreichöriges, teils fugiertes Allegro übergeht und in der von Schumann komponierten ersten Version leise verklingt.

Das Werk und seine Entstehung


Während Jahrhunderten hat die Legende um «Faust» Dichter, Maler und Komponisten künstlerisch beflügelt. Auch Johann Wolfgang von Goethe, der sich rund sechzig Jahre lang mit der Geschichte des Magiers und Wahrsagers Georg Faust aus dem 16. Jahrhundert befasste. Seine Version des Stoffes - Faust I erschien 1808, Faust II 1832 - gehört zu den Meisterwerken der Weltliteratur.
Robert Schumann hatte Goethe gelesen und als 22-Jähriger Gretchens Worte «Meine Ruh ist hin» als Motiv in seinem Intermezzo in e-moll für Klavier op. 4 verwendet. Erst drei Jahre vor seinem Tod nahm er endgültig Abschied von Goethes Drama. Schumann war ein Sprachtalent. Seinen Liedern unterlegte er fast ausschliesslich ausgewählte, sprachlich interessante und poetisch reiche Texte. Goethes Dichtung, der zweite Teil ganz besonders, suggerierte in Schumann einzigartige Klangbilder und Klangvorstellungen.

1844, anlässlich einer Reise nach Russland, fasste Robert Schumann erste Pläne zu einer Faust-Oper, entschloss sich aber später zu einer eher oratorischen Konzeption. Zu diesem Zeitpunkt entstanden ausgerechnet zuerst die Skizzen zum «Chorus mysticus», der Schlussszene aus Faust II, an die sich bisher kein Komponist gewagt hatte, sowie weitere Nummern des dritten und letzten Teils. Dieser dritte Teil, der als zunächst eigenständiges Werk unter dem Titel «Fausts Verklärung» 1848 abgeschlossen wurde, ist wohl der lyrischste der ganzen Komposition. Erst 1849/50 fügten sich die Vertonungen von sechs weiteren Szenen an, welche in vielem Schumanns experimentellen, auch heute noch unterschätzten Spätstil vorwegnehmen. Sie erzählen die Liebestragödie von Gretchen und Faust und Fausts innere Entwicklung. 1853 komponierte Schumann die Ouvertüre. Sie wurde zur letzten der grossen Ouvertüren, die alle seiner Spätzeit angehören. Somit entstand das rund zwei Stunden dauernde Werk vom Schluss her zum Anfang.

Im Unterschied zu anderen Kompositionen des 19. Jahrhunderts, welche fast ausnahmslos den einfachen, bühnenwirksameren ersten Teil der Faust - Tragödie (mit neugeschriebenen Libretti) vertonten, versuchte Schumann Goethes «Faust» musikalisch umzusetzen, ohne die Sprache des Dichters anzutasten. Vor allem hat ihn anfänglich der handlungsarme, von der Erlösungsmystik bestimmte zweite Teil gefesselt.
Schumann vertonte «Faust» also als Erlösungsdrama und wählte nur hierfür relevante Szenen aus. Die Idee der Erlösung auf dem Weg der Reue, Busse oder Selbstaufopferung hatte Schumann auch in den Werken «Das Paradies und die Peri», «Genoveva» und «Manfred» interessiert. Die religiöse Moral wurde in Schumanns späteren Jahren immer wichtiger. «Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen», singen die Engel in «Szenen aus Goethes Faust». In Anlehnung an den Bildungsroman wurden die Faust-Szenen auch als «Bildungsoratorium» bezeichnet. Die Kenntnis der nicht vertonten Abschnitte aus Goethes Faust sollte notwendige Voraussetzung für das Verständnis des Werkes sein.

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