Ohne einen Auftrag erhalten zu haben,
fasste Beethoven 1818 den Plan zur Komposition einer zweiten Messe
(nach der Messe in C-dur op. 86), um sie für das feierliche Hochamt
zur Inthronisation des Erzherzogs Rudolf von Habsburg zum
Erzbischof von Olmütz zu vollenden. Das Werk nahm aber so gewaltige
Ausmasse an, dass es erst Ende 1822 fertig vorlag.
Am 7. Januar 1823 meldete Beethoven die Fertigstellung der Missa,
und am 19. März 1823 überreichte er das Werk seinem Widmungsträger.
Mehr als vier Jahre hatte also die Arbeit gedauert. Beethoven bot
seine Missa gleich verschiedenen Fürstenhäusern in Abschriften an.
Die Uraufführung des ganzen Werkes fand, auf Veranlassung des
Fürsten Galitzin, nicht in Wien, sondern am 7. April 1824 in St.
Petersburg statt. Auf dem Programm erschien das Werk nicht als
"Missa", sondern als "Oratorium". In der orthodoxen Kirche war die
Gattung der Messe unbekannt. Zudem meinte Beethoven, die Messe
könnte auch als Oratorium gegeben werden (er schrieb dies in zwei
Briefen an Goethe und Zelter). In Wien wurde die Missa Solemnis
erstmals im Mai 1824 im Kärntnertortheater auszugsweise gespielt.
"Kyrie", "Credo" und "Agnus Dei" figurierten auf dem Programmzettel
als "Drei grosse Hymnen, mit Solo- und Chorstimmen". Diese
Bezeichnung wurde wohl deshalb gewählt, weil die Verwendung des
Messetextes in profanen Kreisen verboten war. Den "drei grossen
Hymnen" folgte die Uraufführung der neunten Symphonie.
Obwohl Beethoven mit seiner Komposition in
keiner Weise den liturgischen Rahmen sprengen wollte, stellte sich
dennoch die Frage, ob die Missa Solemnis nun eine Messe, eine
Konzertmesse oder gar ein Oratorium sei. Gewiss steht das Werk in
einer liturgischen Tradition, denn Beethoven hat den Messetext mehr
oder weniger wortwörtlich übernommen. Er legte dabei Wert auf die
präzise Übersetzung des Textes und dessen Bedeutung. So finden wir
vereinzelt Wendungen, die an Kirchentonarten erinnern, etwa das
Vermeiden von Dominant-Tonika-Kadenzen am Schluss von Sätzen oder
Satzteilen (z.B. Schluss des ersten Fugenteils des "et vitam
venturi saeculi, amen") sowie die Verwendung eines "stile antico"
für gewisse Abschnitte. Wie ein altes Zitat wirkt das von den
Tenören gesungene "Et incarnatus est" am Anfang des Mittelteils des
Credos (das laut neuester Beethoven-Forschung nicht solistisch,
sondern chorisch zu besetzen ist). Schwer verständlich ist die
Aussage von Beethoven, die Missa könnte "beinahe bloss a cappella"
aufgeführt werden, sind doch die von Beethoven verarbeiteten Themen
chorisch und orchestral eng miteinander verwoben. Arien und Duette
fehlen ganz. Die vier Solostimmen werden zum Teil als geschlossenes
Ensemble, gewissermassen als Solochor, dem Chor
gegenübergestellt.
Obschon die Zuhörerschaft nach der
französischen Revolution zu einem aufgeklärten Bürgertum
herangewachsen war und aus der neu gewonnenen inneren Freiheit auch
ein neues Verhältnis zu Gott suchte, entfremdete sich der Komponist
Beethoven keineswegs von Kirche und Glauben. Allerdings kann man
ihn, schon wegen seiner Bonner Herkunft, als katholischen Aufklärer
bezeichnen, und als solcher vertritt er das Humanitätsideal des
ausgehenden 18. Jahrhunderts. Die Missa Solemnis ist laut Beethoven
dazu bestimmt, "sowohl bei den Singenden als bei den Zuhörenden
religiöse Gefühle zu erwecken und dauernd zu machen". Aus dieser
Haltung kann man die Bezeichnungen im Kyrie und Sanctus "mit
Andacht" verstehen, sowie das Motto "Von Herzen - möge es wieder zu
Herzen gehen". In der Musikgeschichte nimmt die Missa Solemnis
zweifellos einen überragenden Platz ein. Schon damals war sich
Beethoven der Bedeutung seiner Komposition sehr bewusst. Am 10.
März 1824 schrieb er an seinen Verleger Schott in Mainz: "So schwer
es mir wird, über mich selbst zu reden, so halte ich sie doch für
mein grösstes Werk".
Das Monumentale der Messe stiess damals
wohl an die Grenzen der Verständlichkeit, aber dies war bei anderen
Spätwerken des Komponisten, etwa der 9. Sinfonie, den späten
Streichquartetten oder der "Grossen Fuge" ähnlich. Nicht alle
Messeteile sind schwer zu verstehen. Hie und da wird man an die
späten Messen von Beethovens Lehrer Haydn erinnert. Die
Orchesterbesetzung ist für Beethoven nicht ungewöhnlich; wie in
seinen Symphonien mit doppeltem Holz, vier Hörnern, drei Posaunen,
zwei Trompeten, Pauken und Streichern. Neu ist dabei, dass die
Posaunen nicht mehr colla parte mit dem Chor eingesetzt werden,
sondern eine eigene Rolle erhalten.
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1.
Kyrie
In der grossformatigen Anlage ist der Satz in der Tradition von
Beethovens Vorgängern und Zeitgenossen geschrieben. Neuartig und
metrisch eigenartig ist der Orchester- und später auch der
Chorbeginn, der nicht auf Schlag 1, sondern einen halben Takt
voraus erfolgt. Unterstrichen wird diese synkopische Wirkung durch
den, einen Schlag verspäteten, Einsatz von Trompeten und Pauken.
Das eigentliche Thema erscheint im Orchester erst einige Takte
später. Die Solisten nehmen das Thema auf. Ohne Unterbruch folgt
auf das "Assai sostenuto" das fliessendere "Christe eleison" in
h-moll, der Paralleltonart von D-dur. Die beiden Worte werden von
Chor und Solisten einander gegenüber gestellt, sie steigern sich
gegenseitig bis zur Reprise "Kyrie eleison". Hier ist das erste
"Kyrie" von Chor und Solisten bemerkenswert, welches nicht mehr in
der Tonart D-dur, sondern in der Subdominante G-dur einsetzt, bis -
nach einigen Modulationen - die Haupttonart zum Schluss wieder
erreicht wird. Die Rufe "Kyrie eleison" klingen pianissimo
aus.
2. Gloria
Dieser Satz lässt sich in drei grosse Teile gliedern, die pausenlos
ineinander übergehen.
1.
Teil: |
Allegro vivace "Gloria in
excelsis Deo" - meno allegro "Gratias" - Tempo 1 "Domine Deus" bis
"filius Patris" |
2.
Teil: |
Larghetto "Qui tollis" bis
"Miserere nobis". |
3.
Teil: |
Allegro "Quoniam" - Presto
"Gloria in excelsis Deo", als gesteigerte Variante des ersten
Teils. |
Der erste Teil mit seinen akklamierenden "Gloria"-Rufen gipfelt
beim erstmaligen Einsatz der Posaunen in den Worten "Deus Pater
omnipotens".
Als grosser Kontrast folgt das "Qui tollis", ein Larghetto in
F-dur, quasi ein Trio von Holzbläsern (aus denen die Klarinetten
hervortreten), dem Solistenquartett und dem Chor. Mit einem
pianissimo-Paukenwirbel setzt der dritte Teil ein. Die
"Quoniam-Rufe" des Chores werden vom Tutti begleitet, sie münden in
die Fuge "In gloria Dei patris amen". Dies ist eine Fuge
klassischen Zuschnitts mit nur einem Thema. Neu sind die
symphonisch anmutenden Mittel der Steigerung. Nach der ersten
Chorfuge setzen die Solisten in kanonischer Art ein, unterstützt
von einem neuen "Cantus-firmus"-Thema der Bässe und der Tenöre. Der
Chor nimmt das Fugenthema, ebenfalls kanonisch, wieder auf. Danach
ändert sich das Tempo: Mit einem raschen Alla breve steigert
Beethoven, unter Verwendung eines sprachlichen Kontrapunktes
(Solisten: "Amen", Chor: "Quoniam tu solus sanctus"), die
Gesamtwirkung vom anfänglichen Piano-agitato zum homophonen
Fortissimo des Fugenthemas "In gloria Dei patris amen". Der Satz
schliesst, ähnlich der 9. Symphonie, mit einem Stretta-Teil; ein
Presto mit Wort und Thema des Satzanfangs "Gloria in excelsis
Deo".
3.
Credo
Zweifellos spielt die Aussage "Credo" für Beethoven eine zentrale
Rolle. Mit der fallenden Terz b-g zu Beginn des Allegro non troppo
übernimmt der Komponist die Töne der liturgischen Intonation und
wiederholt sie im Verlauf des Satzes mehrmals. Diese Technik des
wiederholten Credo-Rufes ist nicht neu, wir treffen sie bei Mozart
oder etwa zeitgleich bei Schubert an, in seiner Messe in As-dur.
Aber nicht nur im Chor, sondern auch in den Posaunen und den Bässen
taucht dieses Credo-Motiv auf.
Ebenfalls in der Tradition steht die Tonmalerei bei der Stelle
"Descendit de coelis" und auch der nachfolgende Tempowechsel
(Adagio) bei "Et incarnatus est". Der Chortenor bringt das "Et"
zuerst isoliert und singt anschliessend das archaische,
kirchentonartig anmutende Thema, bevor die Solisten diesen Gedanken
aufgreifen, begleitet von eigenartigen hohen Trillerfiguren der
Flöte zum "de spiritu sancto". Interessant ist der unisono
psalmodierende Abschluss des Chores dieses ersten Abschnitts des
langsamen Mittelteils. Ein fliessenderes Tempo in Dur, harmonisch
eindeutig wieder konventioneller, wohl um den Gegensatz zwischen
dem heiligen Geist und der Menschwerdung aufzuzeigen, kennzeichnet
das "et homo factus est" (das "Et" wiederum musikalisch isoliert!).
Für das "Crucifixus" wählt Beethoven ein noch langsameres Adagio,
dessen übereinandergeschichtete Rhythmen und Figuren fast barock
anmuten. Nochmals erscheinen im Chor die isolierten "Et" bei "et
sepultus est". Interessant ist die tonartliche Rückung vier Takte
vor dem Schluss dieses Teils: von g-moll über Des-dur und f-moll
bis zu C-dur, der Dominante des darauffolgenden Allegros "Et
resurrexit tertia die", a cappella von den Tenören, dann vom
vierstimmigen Chor in einem "stile antico" vorgetragen. Darauf
folgt, ebenfalls klangmalerisch, in einem raschen Tempo "et
ascendit in coelum", mit der nun schon bekannten Technik des
isolierten "Et", bei "et iterum venturus est". Die Reprise des
ersten Teiles (Allegro non troppo) beginnt mit den Worten "Credo in
Spiritum sanctum". Das Wort "Credo" wird auch hier mehrmals
wiederholt. Unmittelbar mündet dieser Teil in die Doppelfuge "Et
vitam venturi saeculi": ein gewaltiger, auch tempomässig als
Steigerung angelegter Komplex, dessen Höhepunkt in einem Grave
gipfelt. Doch anders als beim Gloria endet der Satz ohne dynamische
Steigerung. Er löst sich in Piano-Melismen der Solisten auf und
klingt in einer Dimension aus, die an die 9. Symphonie erinnert.
Dieser Satz, in der Grossform auch dreiteilig, entspricht dem Thema
der Dreifaltigkeit.
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4.
Sanctus und Benedictus
Sehr kurz ist, verglichen mit den beiden vorhergehenden Sätzen, das
Sanctus, ein Adagio. Wie beim Kyrie ist die Bezeichnung "Mit
Andacht" vorangestellt. Von unten nach oben aufbauend, beginnt das
Orchester ohne Geigen und hohe Holzbläser. Zusammen mit Hörnern und
Posaunen ergibt dies klanglich .eine neuartige Wirkung. Die drei an
Gebete erinnernden Sanctus-Anrufe sind den Solisten vorbehalten,
beim dritten Mal erklingen sie nur noch mezza voce, über einem
Nonenakkord im Tremolo, den der Chor (man denkt wieder an den
vierten Satz der 9. Symphonie) in helles D-dur, "Pleni sunt coeli",
auflöst. Hier setzen auch die Violinen ein. Ebenfalls in D-dur
steht das kurze, chorische "Osanna" mit eigenartigen Sforzati am
Schluss.
Das nun folgende Präludium hängt motivisch mit dem Beginn des
Sanctus zusammen. Zur Zeit der Wiener Klassik und des deutschen 19.
Jahrhunderts sicher einmalig; hingegen sind in Frankreich oder
Italien, etwa bei Charles Gounod, derartige Vor- oder
Zwischenspiele in Messen durchaus bekannt. Dieses Präludium geht
nahtlos über in das Benedictus, welches von der Solovioline
dominiert wird. Der konzertante Einsatz dieses Instrumentes
erinnert an Beethovens Romanzen für Violine und Orchester. Nach dem
vom Chorbass deklamatorisch gesungenen Text "Benedictus qui venit
in nomine domini" setzen, immer umrankt von der wie entrückt
wirkenden Sologeige, die Solisten ein, die mit dem Chor nur selten
in eine Zwiesprache treten. Anschliessend erscheint, wie in der
Liturgie, erneut das "Osanna", hier aber eine Neukomposition, die
von der Solovioline kontrapunktiert wird und ruhig
ausklingt. |
5. Agnus
Dei
Dieser Satz trägt sehr eigene und einmalige Züge. Im liturgischen
Messeablauf ist das Agnus Dei dreiteilig (zweimal "Agnus Dei,
miserere nobis", einmal "Agnus Dei, dona nobis pacem"). Beethoven
macht daraus eine grosse Zweiteiligkeit: Er schreibt einen
Adagio-Abschnitt von 95 Takten mit Schwerpunkt "miserere nobis" und
einen sehr langen, tempomässig mehrteiligen Abschnitt "Dona nobis
pacem" von fast 340 Takten. Im ersten Abschnitt gibt es drei Anrufe
der Solisten, die sich zum chorischen "miserere nobis" steigern,
zuerst nur von den tiefen Stimmen, dann vom ganzen Chor
vorgetragen; auch von der Taktzahl her wird dieser Ruf dreimal
verstärkt. Der Übergang zum "Dona nobis" erfolgt pianissimo mit
einem tastenden Charakter, wobei der Chor das "Dona nobis" im
6/8-Takt anfänglich thematisch nur andeutet, bis das Orchester
überleitend zu den beiden Themen im Chor das Geschehen aufnimmt.
Seinem wichtigen Anliegen entsprechend, überschreibt Beethoven
diesen Teil mit "Bitte um den inneren und äusseren Frieden". Dieser
Friede wird durch dramatische Ausbrüche gestört, die verwirrend
sein sollten und Beethovens Zeitgenossen auch verwirrt haben:
Zuerst erklingt in einem Allegro assai, charakterisiert durch
Trompeten und Pauken, ein rezitativischer, vielleicht auch an
Fidelio erinnernder Anruf von Solo-Alt und Solo-Tenor "Agnus Dei,
miserere nobis", dem sich der Chor anschliesst. Nach einer
Beruhigung der Solisten und des Chores folgt im Tempo primo ein
Alla breve - Presto, diesmal vor allem symphonisch gehalten, mit
kurzen Motiven und Trillern. In das Fortissimo des Solosoprans
setzt der Chor piano ein. Die Coda beginnt mit einem wie aus der
Ferne klingenden "pacem, pacem", welches durch Paukenschläge
unterbrochen wird. Nach einem kurzen Zwischenspiel folgen im Chor
nochmals die zentralen "Dona pacem, pacem" - Rufe, nun nicht mehr
piano, sondern - von Streichern und Holz gestützt - forte gesungen.
Vier Schlusstakte mit unerwarteten Sechzehntelpassagen bei den
Streichern runden das Werk ab.
Walter Riethmann
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