Konzert in Riehen am 4. Juni 2005 Basel: "Brahms und Boulanger"
Ankündigung in der BaZ Tagestipp vom 4. Juni 2005:
Französische Moderne: Lili Boulanger und Jehan Alain Ob
Zufall oder nicht: Gleich zwei jung verstorbene Persönlichkeiten der
französischen Musikszene nach 1900 werden am Wochenende in Erinnerung
gerufen
KOMPONISTIN. Ihre Schwester Nadia wurde als
Lehrerin berühmt, sie selbst hat sich als Komponistin einen Namen
gemacht: Lili Boulanger, die mit 24 Jahren 1918 einer schweren
Krankheit erlegen ist. Mit 19 Jahren gewann sie den Rompreis des
Pariser Konservatoriums, und in den wenigen Jahren, die ihr verblieben,
schuf sie ein beeindruckendes OEuvre, das vor allem aus Vokalmusik
besteht. Von Lili Boulanger singt der Chor Cantus Basel am Wochenende
Chorwerke, die man so gut wie nie zu hören bekommt und die ihre Prägung
durch den französischen Impressionismus eines Debussy und Ravel zum
Ausdruck bringen. Daneben interpretiert der von Walter Riethmann
geleitete gemischte Chor in bewusstem Kontrast Zigeunerlieder von
Johannes Brahms. Das Konzert wird doppelt geführt: am Samstag um 19 Uhr
im Landgasthof Riehen und am Sonntag zur selben Zeit im Museum von
Liestal.
ORGANIST. Jehan Alain wurde 18 Jahre nach Lili Boulanger ebenfalls in
Paris geboren. Auch er kam in jungen Jahren zu Tode – 1940 im
Luftkrieg. Und auch er hat mit der Organistin Marie-Claire Alain eine
als Interpretin und Pädagogin berühmte Schwester. Dem Komponisten Jehan
Alain ist ein kleines, von der Organistin Babette Mondry initiiertes
Basler Festival gewidmet, das mit einem Kinderkonzert am Samstag um 17
Uhr beginnt und in der Aufführung der grossen Orgelwerke Alains (unter
anderem der berühmten «Litanies») am Sonntag um die gleiche Zeit
gipfelt. In diese Aufgabe teilen sich vier Organisten: allen voran Guy
Bovet, dann die Jüngeren Emmanuel Le Divellec, Marc Fitze und Tobias
Willi.
> «Cantus»: Sa, 19 Uhr, Landgasthof Riehen, So, 19 Uhr, Museum BL, Liestal.
> Alain-Festival: Sa, 17 und 20 Uhr, So, 10 und 17 Uhr, Peterskirche, Basel.
Basellandschaftliche Zeitung. Dienstag, 7. Juni 2005 / Seite 8 (Kultur)
Rätselhafte Mystik
CHORKONZERT / Der Konzertchor Cantus Basel interpretierte im Riehener Dorfsaal Lieder von Lili Boulanger und Johannes Brahms.
Von Rolf de Marchi
RIEHEN.
"Nicht die Schmerzen sind es die mich so mutlos machen - sondern weil
ich begreife, dass ich niemals das Gefühl haben werde, das getan zu
haben, was ich wollte." Diese Worte schrieb Lili Boulanger (1893-1918)
knapp zwei Jahre vor ihrem mit grossem Leiden verbundenen Tod. Nur 24
Jahre alt wurde die jüngere Schwester der wesentlich berühmteren
Komponistin und Kompositionslehrerin vieler berühmter Tonsetzer des
vergangenen Jahrhunderts Nadia Boulanger, die übrigens 91 Jahre alt
wurde. Dass die jüngere Lili wohl eine ähnlich grosse Karriere als
Komponistin hätte machen können wie ihre ältere Schwester, wenn der Tod
sie nicht so früh aus dem Leben gerissen hätte, beweist die Tatsache,
dass sie als erste Frau den wohl wichtigsten Kompositionspreis gewonnen
hatte, den Frankreich zu vergeben hat, den 1er Grand Prix de Rome von
1913.
Lili Boulangers impressionistische Musik
Nebst Klavier und Kammermusik schrieb die Lili Boulanger vor allem
Werke für Chor mit Klavier- oder Orchesterbegleitung. Der Konzertchor
Cantus Basel hat mehrere dieser Werke unter der Leitung von Walter
Riethmann im Konzertsaal des Landgasthofes Riehen zur Aufführung
gebracht. Sehr kompetent und mit grosser Sensibilität für Dynamik wurde
der Chor vom Pianisten Christian Thurneysen begleitet, wenn man von
ein, zwei Stellen absieht, wo das Temperament etwas mit ihm durchging
und er mit seinem Spiel den Chor übertönte.
Als Solisten wurden die Sopranistin Regula Grundler verpflichtet, die
ihre Partien mit geschmeidiger Stimme sang, sowie Aurea Marston mit
einer warmen, vollen Mezzosopranstimme und schliesslich der Tenor
Walter Siegel, der anfänglich ein wenig unsicher klang, ansonsten aber
seine Sache gut machte.
Zusammen mit dem Chor vermochten sie Lili Boulangers impressionistische
Musik voller Ausdruckskraft und rätselhafter Mystik gefühlvoll
umzusetzen. Es ist zu hoffen, dass der Cantus Chor auch in Zukunft
solche Perlen suchen und zur Aufführung bringen wird.
Im verteilten Programm konnte man aber leider nichts über die Autoren
der Liedtexte wie beispielsweise von Maurice Maeterlinck, dem Autor von
"Reflets", erfahren.Nach der Pause sang der Chor dann noch die
Zigeunerlieder op. 103 und 112b von Johannes Brahms. Sauber intoniert
und mit Verve sang der Chor diese Lieder. Die Textverständlichkeit war
übrigens wie schon vorher bei Lili Boulangers französisch gesungenen
Liedern ausgezeichnet. Nach lang anhaltendem Applaus brachte der Chor
das anregende Konzert mit "In stiller Nacht, zur ersten Wacht" von
Johannes Brahms zum Abschluss.
Basler Zeitung, BAZ, vom 6. Juni 2005 Gutgemeint
Gefordert – der Cantus-Basel-Chor wagt sich an Unbekanntes
Von Markus Erni
Der Laienchor Cantus Basel gastierte in Riehen und Liestal – und stiess
in verschiedener Hinsicht an seine Grenzen. Das lag nicht zuletzt an
der fehlenden Dramaturgie.
Ein Programm mit einer Unbekannten, Lili Boulanger, und allzu
Bekanntem, den Zigeunerliedern von Brahms, gehörten lange Zeit zum
festen Bestandteil des Konzertlebens. Und die Idee, der viel zu wenig
bekannten Lili Boulanger (1893–1918), der jung verstorbenen Schwester
Nadia Boulangers, eine Programmhälfte zu widmen, ist löblich. Walter
Riethmann, Dirigent des Cantus-Basel-Chors, mischte mit Geschick
Chorstücke und Sololieder. Freilich gerieten alle Beteiligten rasch an
ihre Grenzen.
UNAUSGEWOGEN.
Verführerisch müssten «Les sirènes» tönen; Sehen, Riechen und Hören
vermischend «Soir sur la plaine»; munter-schäkernd «Renouveau»
(Frühlingslied); inbrünstig «Hymne au soleil». Lili Boulangers Musik
ist klanglich attraktiv, bräuchte aber ein sorgfältiges Austarieren der
Stimmen und reines Intonieren. Was das Austarieren betraf: Die Herren-
waren halb so gross wie die Damenregister; am Klavier (Christian
Thurneysen) wurde ehrlich buchstabiert, aber ohne Sinn für Mischklang;
und die Solostimmen wirkten durch die Aufstellung vor dem Flügel
abgehoben, zu wenig integriert. Letztere waren qualitativ sehr
unterschiedlich, einzig die Mezzosopranistin Aurea Marston verfügte –
namentlich im Lied «Reflets» – über eine gesangliche wie
sprachlich-deklamatorische Souveränität.
Mit der Intonation haperte
es: Zugegebenermassen gibt es sehr exponierte Lagen und ist die
Intervallik für einen Laienchor ungewohnt, aber der Klang konnte unter
solchen Voraussetzungen gar nicht zum Schwingen kommen, blieb über
weite Stecken stumpf.
UNZULÄNGLICH.
Wo Lili Boulanger für die meisten Entdeckung bedeutete, gehören die
Zigeunerlieder zum Populären von Brahms. Und da blieben viele Wünsche
offen: Wäre doch der Chor unten, im ohnehin halbleeren Saal und nicht
auf der Bühne aufgestellt worden, wo ein Gutteil des Klangs in den
Soffitten verschwindet. Hätte der Pianist doch gemeint, er spiele
Schubert und nicht Brahms, dann hätte die Begleitung weniger
einförmig-schwer geklungen. Würde der Dirigent doch nicht die Zählzeit,
sondern den Takt schlagen, wahrscheinlich hätte sich dann etwas von der
«zigeunerischen» Agogik eingestellt.
Wo war die Dramaturgie in
den Texten, die es zugelassen hätte, die 15 Nummern zu Abschnitten
zusammenzufassen, statt sie mechanisch mitden immer gleichen Pausen
abspulen zu lassen? Hat nicht Brahms selber durch die lockere Zuordnung
von Opusnummern und die Sololiedbearbeitungen auch den Weg zu einer
Auswahl von einzelnen Ausschnitten geebnet?
Mehr Konzentration durch Reduktion hätte dem Programm gut getan!
Wenn
der Neue Basler Kammerchor unter der Leitung von Martin Schmidt
Rossinis "Petite Messe Solennelle" aufführt, mit Klavier und Harmonium,
gibt es nicht viel zu erklären - Rossinis Meisterstreich hört man immer
gern.
Im Konzept aufwändiger ist das Konzert des Chors Cantus unter
der Leitung von Walter Riethmann. Man hat Werke von sieben Basler
Komponisten aus einem Zeitraum von rund 500 Jahren ausgewählt. Das
Programm konfrontiert den in der Renaissance in Basel orgelnden und
lehrenden Belgier Samuel Mareschall mit dem 1919 geborenen, in Basel
heimisch gewordenen St. Galler Robert Suter; von diesem gibts "Drei
geistliche Sprüche".
Der um 1486 in Basel geborene Ludwig Senfl will ein "Herzlieb
erwerben", wenn "es taget vor dem Walde"; der 1953 in Basel geborene
David Wohnlich hofft mit Christian Morgenstern, man möge dem Huhn in
der Bahnhofshalle ("nicht für es gebaut") nichts tun. Seine Gesänge
nach Morgenstern-Gedichten für gemischten Chor und Schlagzeug
(1984/2003) werden in diesem Konzert uraufgeführt. Die anderen Basler
im Programm: Conrad Beck ("Der Tod des Oedipus"), Peter Escher, Hans
Huber.Eine zweite Chor-Uraufführung ist bei den Vocales Basilienses
unter der Leitung von Rolf Urech zu erleben. Der in Liestal
aufgewachsene Markus Wettstein, heute in Berlin, stellt seinen
Sestinenzirkel für Chorgruppen und Klavier vor. Das Stück orientiert
sich an der alten Gedichtform der Sestine -sechs sechszeilige Strophen
mit wiederkehrenden Schlüsselworten - und kombiniert ein eingegrenztes
Material in sechs Abschnitten immer neu. Der Zauber der Zahl "6" wird
auch bei Palestrina, Monteverdi, Strawinsky sowie den experimentell mit
der Form spielenden Komponisten Oskar Pastior und Christoph Schiller
erkundet. tw